"Sport stärkt unser Immunsystem"

Mythos oder Wahrheit?

„Sport stärkt unser Immunsystem“: Wahr oder falsch? Das beantwortet Dr. med. Stefan Redlin. Der Kardiologe und Sportmediziner von der Kardiologischen Gemeinschaftspraxis Solingen ist Mitgründer des „Sportmedizinischen Zentrums Solingen“, einer sportmedizinischen Untersuchungsstelle des Landessportbundes Nordrhein-Westfalen.

Stärkt Sport unser Abwehrsystem?

Dr. Stefan Redlin: Ja und nein. Einerseits kannst du deinem Immunsystem Gutes tun, sofern du Sportart und Intensität im Blick hast. Übst du Sport jedoch zum falschen Zeitpunkt aus und gibst du dem Immunsystem zu wenig Zeit, sich zu erholen, schwächst du deinen Körper.

Wie funktioniert unser Abwehrsystem – und welchen Einfluss hat Bewegung?

Dr. Stefan Redlin: Unser Abwehrsystem versucht, Eindringlinge wie zum Beispiel Bakterien, Viren, Pilze, Parasiten und Stoffe, die nichts im Köper verloren haben, unschädlich zu machen, damit diese keine Erkrankungen verursachen. Ein sehr komplexer Vorgang. Das „unspezifische“ Abwehrsystem ist „angeboren“ mit Blutzellen, die schnell auf Erreger reagieren. Dann gibt es das „erworbene“ Immunsystem mit Lymphozyten, die Antikörper herstellen, nachdem sie Kontakt mit einem Eindringling hatten. Entsteht erneuter Kontakt, erinnern sich die Zellen und sie können schneller reagieren. Regelmäßige körperliche Aktivität verbessert sowohl das angeborene als auch erworbene Abwehrsystem deutlich.

Wie viel Bewegung empfehlen Sie?

Dr. Stefan Redlin: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt Erwachsenen, pro Woche mindestens 150 Minuten „körperlich aktiv“ zu sein. Dazu zählen auch Treppensteigen oder Wege zu Fuß, etwa zum Bahnhof. Die Belastung sollte „moderat“ sein und sich im sogenannten aeroben Bereich abspielen. Da liegt der Wert bei 70 bis 80 Prozent der maximalen Herzfrequenz. Allerdings brauchst du keinen Pulsmesser, um zu fühlen, dass du deinen Körper in gesundem Maße belastet hast. Wenn du sagen kannst „Ich spüre, dass ich meinen Körper gefordert habe, das fühlt sich angenehm an und ich fühle mich nicht erschöpft“, bist du auf einem guten Weg.

Wann ist der falsche Zeitpunkt für Sport?

Dr. Stefan Redlin: Sport während einer Erkrankung, wie etwa einer Erkältung, ist gefährlich. Mach bei einem Infekt eine Sportpause. Verzichte, bis alle Symptome vollständig auskuriert sind. Bei einem fieberhaften Infekt hängst du noch eine Woche dran. Du gehst sonst das Risiko ein, an einer Herzmuskelentzündung zu erkranken. Das unterschätzen viele. Mit den Folgen habe ich als Kardiologe häufig zu tun.

„Mit Schnupfen kann ich ja ruhig joggen gehen“: Warum glauben das viele?

Dr. Stefan Redlin: Das Problem ist, dass man bei einem Virusinfekt die Herzmuskelentzündung nicht unbedingt spürt. Wenn der Puls im Ruhezustand zehn Schläge höher ist als sonst, kann das ein Warnsignal sein. Aber wer kennt schon die eigene Herzfrequenz? Es gibt deshalb eine hohe Dunkelziffer bei Herzmuskelentzündungen. Leistungssportler könnte ein abweichender Puls auffallen. Ihnen wiederum fällt es schwer, zu akzeptieren, dass sie bei einer Erkältung keinen Sport treiben sollen. Etwa vor einem Wettkampf, auf den sie sich monatelang vorbereitet haben. Verzicht frustriert, ist aber vernünftig. Herzmuskelentzündungen sind außerdem schwierig zu diagnostizieren. Am Anfang frage ich nach typischen Symptomen, zum Beispiel Leistungsminderung, ungewöhnlicher Luftnot, Schmerzen im Brustkorb oder Herzrhythmusstörungen. Weiterhin kommen neben der gründlichen körperlichen Untersuchung unterschiedliche Verfahren wie EKG, Herzultraschall, Blutanalysen und eventuell ein MRT des Herzens zum Einsatz.

Was ist an einer Herzmuskelentzündung so schlimm, wenn ich sie nicht spüre?

Dr. Stefan Redlin: Erstens besteht das Risiko, eine lebensbedrohliche Herzrhythmusstörung zu entwickeln. Eine mögliche Ursache, wenn Sporttreibende plötzlich tot umfallen. Wir sprechen dabei von über 0,7 bis drei Fällen pro 100.000 Sporttreibenden pro Jahr, wobei männliche Sportler weitaus häufiger betroffen sind als weibliche. Zweitens: Wenn ich einen entzündeten Herzmuskel dauerhaft überstrapaziere, leiert er aus. Wie ein Gummiband, an dem ich zu lange zu fest ziehe. Daraus kann eine dauerhafte Herzschwäche entstehen, da der Muskel an Kraft verliert.

Warum ist Erholung nach dem Sport wichtig?

Dr. Stefan Redlin: Unser Körper passt sich nach dem Sport an die „Reize“, also an die intensive Belastung an. Diese „Anpassungsvorgänge“ spielen sich in der „Regeneration“, der Erholungsphase, ab. Wenn ich mich nicht ausreichend regeneriere, habe ich einen geringeren Trainingseffekt. Unsere Abwehrkräfte sind unmittelbar nach einer intensiven Belastung geschwächt. Diese Phase nennen Fachleute „Open Window Effekt“. Dann wird der Körper anfälliger für Krankheitserreger und Infekte. Wenn die Belastung, wie anfangs erwähnt, moderat bleibt oder man sich nach dem Sport ausreichend erholt (das kann je nach Intensität des Trainings 48 bis 72 Stunden dauern) kann nichts schief gehen.

Ihr Tipp für Menschen, die sich mehr bewegen wollen?

Dr. Stefan Redlin: Gewöhne deinen Körper langsam an die Belastung. Beispiel: Jogge oder walke lieber drei Mal pro Woche 20 Minuten lang, ohne außer Atem zu kommen – anstatt ein Mal pro Woche für eine Stunde. Du musst dir erst ein Fundament aufbauen. Ohne Fundament stürzt ein Häuschen ein. Wenn du gleich eine Stunde läufst und danach völlig erschöpft bist, ist die Hürde beim nächsten Start größer.

Welche Sportarten empfehlen Sie?

Dr. Stefan Redlin: Ganz wichtig: Bewegung muss Spaß machen. Ausdauersportarten im Freien wie Laufen, Radfahren, Joggen, Spazieren bereiten vielen Menschen Freude. Auch dosiertes Muskelaufbautraining ist günstig. Mein Eindruck ist, dass Fitnessstudios mit ihren Zugangsvoraussetzungen, Lüftungskonzepten und Abstandsregeln in der Corona-Pandemie ein sicheres Training ermöglichen. Sport in Gemeinschaft, etwa in Gymnastik- oder Yogagruppen, spielt eine wichtige Rolle. Das soziale Miteinander wirkt sich eindeutig positiv auf das Immunsystem aus. Psychisches Wohlbefinden trägt zu körperlicher Gesundheit bei.

„Vor Corona schütze ich mich am besten, wenn ich so oft wie möglich zu Hause bleibe.“ Ihre Meinung?

Dr. Stefan Redlin: Bewegung an der frischen Luft ist wichtiger als je zuvor. Sie tut sowohl Körper als auch Seele gut. „Moderate Aktivitäten“ schützen nicht vor Infektionen. Allerdings ist erwiesen, dass regelmäßige Bewegung schweren Covid-19-Verläufen vorbeugt.

Welche Rolle spielt Bewegung für Long-Covid-Patienten?

Dr. Stefan Redlin: In meine Praxis kommen Patienten und Patientinnen, die unter einer enormen Leistungsminderung leiden. Ausgeprägte Müdigkeit, Luftnot bei Belastung, Konzentrationsstörungen. Wenn man der Erschöpfung dauerhaft nachgibt und sich zum Beispiel ständig ausruht, weil man körperliche Aktivität verständlicherweise als zu anstrengend empfindet, gerät man in einen Teufelskreis: Muskulatur wird abgebaut, die Fitness nimmt weiter ab. Noch kennen wir die Mechanismen der Krankheit nicht, und es gibt auch noch keine etablierte Therapie. Aber mir scheint es naheliegend, den Teufelskreis Schritt für Schritt mit einem strukturierten Trainingsplan zu durchbrechen.

Wie durchbricht man den Teufelskreis?

Dr. Stefan Redlin: Wir können Anhaltspunkte für eine geeignete Belastungsintensität geben, indem wir eine Leistungsdiagnostik in Form einer Spiroergometrie durchführen. Vorher muss ausgeschlossen werden, dass Lungenveränderungen vorliegen oder organische Ursachen – etwa eine Herzschwäche – die Luftnot verursachen. Für Menschen, die unter Long-Covid leiden, brauchen wir langfristig ein interdisziplinäres Konzept: Da müssen unter anderem Lungenfachleute und Kardiologen zusammenarbeiten, um die Patienten gemeinsam zu beraten.

Was ist Ihrer Meinung nach der größte Sport-Mythos?

Dr. Stefan Redlin: „No sports“ ist ein viel zitierter, legendärer Spruch des ehemaligen britischen Premierministers Winston Churchill. Sinngemäß auf Deutsch: „Sport ist Mord.“ Das Zitat wurde allerdings nie belegt. Stattdessen schwärmte Churchill in seiner Autobiografie vom Pferdesport: „Keine Stunde, die man im Sattel verbringt, ist verloren.“ Sport ist das Medikament des Jahrhunderts. Sport beugt nachweislich schweren Krankheiten wie Herzkreislauferkrankungen und Krebs vor. Was meine Patienten und Patientinnen aber am meisten beeindruckt: Regelmäßiger Sport lässt die Wahrscheinlichkeit, im Alter an Demenz zu erkranken, um 40 Prozent sinken. Das ist wirklich eine Hausnummer.

 

Dieser Mythos ist Teil unserer Aufklärungskampagne "Tu es für dich", in der wir über weitverbreitete Gesundheitsmythen aus den Bereichen Bewegung, Entspannung, Ernährung und Suchtprävention aufklären.

 

© Daniel Schmitt/Spitzlicht-Fotografie

Dr. med. Stefan Redlin

  • 1962, geboren in Haan, verheiratet, vier Kinder.
  • Medizinstudium an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und der Universität zu Köln.
  • Facharztausbildung zum Arzt für Innere Medizin und Kardiologie am Städtischen Klinikum Solingen.
  • Im Jahre 1999 Eintritt in die Kardiologische Gemeinschaftspraxis Solingen, zunächst als angestellter Arzt, ab 2001 dann als selbstständiger Vertragsarzt.
  • 2010, Gründung des Sportmedizinischen Zentrums Solingen mit Herrn Dr. Weindl von der Chirurgischen Gemeinschaftspraxis Solingen.
  • Seit 2011 Mitglied der Forschungsgruppe "Kardiovaskuläre und Molekulare Sportmedizin" am Lehrstuhl für Sportmedizin der Bergischen Universität Wuppertal.
  • Dozent für Kardiologie am Bildungszentrum des Städtischen Klinikums Solingen.
  • Interessensschwerpunkte von Dr. Redlin sind die Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen sowie sportkardiologische Fragestellungen.